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Erziehungswissenschaft vernetzt


Lehrbuch: Übersicht

Der Psychodynamische Implikationszusammenhang

Bei der Erörterung der bisherigen Denkfiguren bin ich von Axiomen oder Annahmen ausgegangen. Diese betrafen erstens Vorstellungen von der Natur einschließlich der menschlichen und zweitens Vorstellungen von der Natur von Gesellschaften, die ich zweite Natur nannte. Nimmt man nun den Bildungsauftrag, wie erörtert hinzu, dann entsteht eine dritte Annahme. Es handelt sich dabei um Visionen über Entwicklungstendenzen und über die Struktur zukünftiger Gesellschaften und ihren Mitgliedern. Genau auf diese Visionen ist Erziehungswissenschaft und mit ihr die Didaktik rückverwiesen. Sie können sich daraus nicht entlassen, weil sie sonst ihren Sinn verlieren, wie in der Einheit Subjekt-Objekt-Vermittlung herausgestellt.

Auf eine solche Vision verweist Agnes Heller, die ich hier zitiere:

In der Deutung der ersten Philosophen, die zugleich auch die Schöpfer des Begriffes sind, ist die Philosophie die Liebe zur Weisheit. Weisheit enthielt begrifflich zwei Momente. Das wahre Wissen und die aufrechte, gute Haltung. Mit anderen Worten das Wahre und das Gute. Ihrem Begriff nach ist also die Philosophie die Liebe zur Einheit des wahren menschlichen Wissens und des guten menschlichen Verhaltens; Die Liebe zur Einheit des Wahren und Guten. Die Einheit des Wahren und Guten ist der höchste Wert der Philosophie. Philosophie ist mithin die Liebe zum höchsten Wert (Heller 1978,15).

Diesen höchsten Wert, den Sinn des Lebens, umschreibt Agnes Heller mit „die Erde als Zuhause der Menschheit“. Dieser Norm gelte es eine Welt zu geben durch Menschen, die der freien Tat mächtig sind. Der höchste Wert als regulative Idee ist im Zusammenhang der philosophischen Grundrichtung, auf die Heller zurückgreift, die Aufhebung der Entfremdung bzw. Unwissenheit. Heller gewinnt also ihre regulative Idee nicht aus dem Nichts und die Idee darf deshalb mit Utopie nicht verwechselt werden. Indem Heller Gesellschaft als eine andere denken kann denn die existierende, wird sie ihr zum Problem. Nur durch das, was sie nicht ist, wird sie sich enthüllen als das, was sie ist. Darauf käme es in einer Demokratie ja wohl an.

Um der Norm eine Welt zu geben, in deren Rahmen auch das Bildungswesen wirkt, ist strukturell zu bedenken:

Erstens unterscheiden wir gewisse gesellschaftliche Bedingungen. Dazu rechnen die Eigentumsverhältnisse, Herrschafts- und Machverhältnisse, die Arbeitsteilung, die Sozialstruktur etwa mit Klassen und Schichten, die verfügbaren Ressourcen sowie die Institutionen, um nur die bedeutsamsten zu nennen. Auf diese gesellschaftlichen Bedingungen hatte ich sie in den vorherigen Lehreinheiten hingewiesen.

Zweitens bewirken die Reproduktionsrationalitäten bzw. die Konstitutionslogik, welche sich auf die gesellschaftlichen Bedingungen beziehen, jeweils eine bestimmte gesellschaftliche Struktur.

Drittens sind gewisse psychische Bedingungen bzw. Zustände zu unterscheiden. Durch privates Eigentum z.B. an den Produktionsmitteln erfährt das Individuum seine Arbeit als etwas, das ihm nicht gehört. Als Ergebnis ist wahrscheinlich, dass es sich in seiner eigenen Tätigkeit unbefriedigt und sinnentleert fühlt. Herrschafts- und Machverhältnisse kann es als Beschränkung seiner Entfaltungsmöglichkeit wahrnehmen. Psychische Bedingungen oder Zustände können also Krankheit, Eindimensionalität, Einsamkeit, Machtlosigkeit, Ungewissheit, Anomie, Minderwertigkeit, Unwissenheit, Sinnlosigkeit, Normenlosigkeit sein.

Viertens sind Prozesse in den Blick zu nehmen, z.B. gesellschaftliche Beziehungen (Interaktionen) zwischen Individuen. Diese Beziehungen stellen ein Bindeglied zwischen den gesellschaftlichen und den individuell psychischen Bedingungen dar. Die Prozesse können auch als Interaktion, Handlung oder generell Arbeit bezeichnet werden.

Fünftens: Vorstellungen über die Beziehungen zwischen gesellschaftlichen und psychischen Bedingungen, d.h. über die Art, in welcher Menschen auf gewisse gesellschaftliche Bedingungen reagieren, setzen eine Theorie über den Menschen, seine Bedürfnisse und sein Wesen voraus. Vorstellungen über diesen Zusammenhang sind im Modell des Implikationszusammenhangs von Lebenskräften und Lebensbedürfnissen eingefangen, welches nunmehr zu behandeln ist.

Die bei weitem nicht erforschte menschliche Psyche muss wahrscheinlich als eine komplexe Verschachtelung affektiv-kognitiver Bezugssysteme verstanden werden (vgl. Ciompi 1998,243). Eine allgemein anerkannte Theorie der Emotionen, ihrer Entstehung und Wirkungen fehlt. Einigkeit scheint innerhalb der Psychologie lediglich darüber zu bestehen, dass es eine biologische Grundausstattung der Gefühlsfähigkeit (als rezeptorische und kommunikative Disposition) gibt und dass hierzu Interesse, Freude, Überraschung, Scham, Trauer, Furcht, Ekel und Wut gehören (vgl. Speidel/Fenner 2002,69). Steuerung des Denkens und Handelns, Regulierung der Interaktion und Selbstwahrnehmung (Identität) können danach als Funktion von Emotionen verstanden werden.

Begreift man die soziale Komponente der somato-psychischen-sozialen Einheit menschlichen Lebens nicht nur als zwischenmenschliche, dann speist sich das Soziale aus der Mensch-Natur-Dialektik bzw. aus Arbeit. Regulierung und Selbstwahrnehmung beziehen sich dann aber zugleich auf geschaffene und zu gestaltende Kultur. Das Subjekt konstituiert sich daher als somato-psychisch-soziale Vermittlung von Individuellem und Gesellschaftlichem.

Auf diesen Konstitutionsprozess des Subjekt-Seins richten sich nun ganz spezielle Bedürfnisse und Kräfte in einem ebenso aneignenden wie entäußernden Prozess. Ich nenne sie Lebenskräfte und Lebensbedürfnisse, dabei fokussierend, dass bewusstes menschliches Leben gesellschaftliche Interaktion ist.

Diese implikationstheoretische Sicht der dialektischen Einheit von Lebenskräften und Lebensbedürfnissen ist Gedanken Hellers angelehnt, die Bedürfnisse anthropologisch als Leidenschaften und Fähigkeiten (Heller 1976,45) charakterisiert. Sie sind, zumindest was die psycho-soziale Seite angeht, immer auf Objektivationen im Gesellschaftlichen Implikationszusammenhang bezogen.

Im folgenden Modell ist dessen Bezeichnung als psychodynamisch nicht mit unbewusst zu verwechseln. Nach zwei Seiten hin wird das Zusammenspiel von Kräften und Bedürfnissen menschlichen Lebens ausdifferenziert. Ich gruppiere sie aufgrund ihrer unterschiedlichen Gewichtung in eine somato-psychische und psycho-soziale Seite. Die Lebenskräfte und Lebensbedürfnisse drängen von beiden Seiten her zugleich auf Befriedigung wie auf Objektivierung von Lebensäußerung, wodurch sich Sinn und Identität ergeben. Das Modell erfüllt – das ist ausdrücklich zu erwähnen – die Funktion eines Referenzrahmens für subjektorientiertes Wahrnehmen und Auslegen in Bildungsprozessen. Es ist nicht als empirisches Aussagegefüge misszuverstehen.

Insofern ich von Lebenskräften und Lebensbedürfnissen spreche und auf deren aneignende und entäußernde Seite hinweise, unterscheide ich mich vor allem von solchen Bedürfnistheorien, die Bedürfnis lediglich als zu befriedigende Begierde des Bekommens oder als konsumistische Nachfrage auslegen.

Die somato-psychischen Lebenskräfte und Lebensbedürfnisse wirken in allem, was physiologisch und affektiv einschließlich der Atmung zur Nahrungsaufnahme und Verarbeitung, Ausscheidung und Absonderung gehört; aber auch in der Rhythmik unserer Physis wie im Nerven-Sinnessystem kommen sie zum Tragen.

Die somato-psychische und die psycho-soziale Bewegungsseite werden über das menschliche Nerven-Sinnes-System vermittelt. Wegen seiner Subjekt-Objekt-Dialektik bzw. Innen-Außen-Vermittlung erschien und erscheint mir nach wie vor das Sinnes-System von Rudolf Steiner (vgl. Steiner 1980) besonders überzeugend und für Bildungsprozesse praktikabel.

Es umfasst

  • die ausgesprochenen inneren, ontogenetisch und phylogenetisch unteren Sinne: Tastsinn, Lebenssinn, Bewegungssinn, Gleichgewichtssinn;
  • die ontogenetisch und phylogenetisch mittleren, äußerlich-innerlichen Sinne: Geruchssinn, Geschmackssinn, Sehsinn, Wärmesinn;
  • die ontogenetisch und phylogenetisch oberen, ausgesprochen äußeren Sinne: Gehörsinn, Wortesinn, Gedankensinn, Ichsinn.

Die Beschränkung auf nur fünf, noch dazu separat wirkende Sinne, galt bereits seit den 1970er Jahren als überholt (vgl. Horn 1982, Lauer 1977, Scheurle 1984, Stielow 1981). Seit dieser Zeit hat die Neurophysiologie, insbesondere die Hirnforschung, außergewöhnlich weitere und aufschlussreiche Ergebnisse präsentiert. Sie haben mich dazu inspiriert, eine Lemniskaten-Darstellung des Psychodynamischen Implikationszusammenhangs als Stoffwechselprozess zu wählen und die Vermittlungsfunktion der Sinne im System der Lebenskräfte und Lebensbedürfnisse dazu in Relation anzuordnen.

In meinen Ausführungen zur Einheit »Gesellschaftliche Bewusstseinformen« des Gesellschaftlichen Implikationszusammenhangs betonte ich, dass auch die Sinneswahrnehmung sich sozialisatorisch entwickelt. Das, was wir wahrnehmen, ist immer, auch wenn es nicht zum Bewusstsein gelangt oder uns nicht als Begriff zur Verfügung steht, in seinem Sinn und in seiner Wertigkeit bereits gesellschaftlich geprägt. So sind die Sinne vermittelnde und doch bereits vermittelte Kraft.
Wenn wir uns die Ganzheitlichkeit des Lebensprozesse und die somato-psychisch-soziale Vermittlungsfunktion der Sinne vergegenwärtigen, dann erkennen wir auch, dass es eine lediglich auf Kognitionen ausgerichtete Bildungs- bzw. Subjekttheorie nicht geben kann und dass somit kognitionspsychologische Lerntheorien nur eine begrenzte Reichweite haben (vgl. Holzkamp 1993).

Mit der Entäußerung von Lebenskräften und der Befriedigung von Lebensbedürfnissen verwirklicht sich neben Lebenssinn und Identität zugleich die permanente Selbstvergewisserung. Insofern der psychodynamische Implikationszusammenhang ein innerlich/äußerliches Steuerungssystem ist, lassen sich aus ihm heraus Antriebsmuster, Antriebsrichtungen (also die Motivation) und der Grad ihrer Ausprägung ebenso wie ihre Kausalität verstehen.

Ein großer Teil der menschlichen Gefühle lässt sich aus der Dynamik der Lebenskräfte und Lebensbedürfnisse heraus verstehen. Sind sie doch „Gestimmtheiten“ in Bezug auf entsprechende Befriedigungen oder auf Sanktionen und Frustrationen im psychodynamischen Implikationszusammenhang.

Die anthropologisch generellen Lebenskräfte und Lebensbedürfnisse, wie ich sie in der Lemniskate zusammengestellt habe, konkretisieren sich historisch, milieuspezifisch und individuell höchst vielfältig aus. Das soll im Folgenden für die psycho-soziale Seite veranschaulicht werden, ohne dabei den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben.

Sowohl die somato-psychischen als auch die psycho-sozialen Lebenskräfte und Lebensbedürfnisse werden im Modell als in sich paarig dargestellt. Diese Paarigkeit darf nicht im Sinne der Entgegensetzung, des Ausschlusses missverstanden werden. Zeitlich rhythmisiert, qualitativ und quantitativ kann diese Paarigkeit unterschiedliche Konfigurationen erhalten. Insgesamt kann sich eine Balance aber auch ein Disbalance ergeben. Jede Konfiguration wird individuell als Identität wahrgenommen, sei sie ausgewogen oder nicht.

Da der Zusammenhang von Lebenskräften und Lebensbedürfnissen durch eine Implikationen konstituiert wird, die auch überpaarige Kombinationsmöglichkeiten enthalten, bleibt eine zweidimensionale Veranschaulichung wie durch die obige Skizze unzulänglich. Es hat sich gezeigt, dass die Praktikabilität des Implikationszusammenhangs als Auslegungs- und Planungsinstrument dadurch nicht geschmälert wird.

Betrachten wir z.B. die Einheiten Autonomie-Gemeinschaft und Regulation-Freiheit, so können sich die kollektiven und individuellen Konkretisierungen höchst unterschiedlich gewichtet realisieren. Da ich die Lebenskräfte und Lebensbedürfnisse als anthropologische Grunddisposition ansehe, wirkt ihre Dynamik, z.B. die von Autonomie-Gemeinschaft und Regulation-Freiheit, unter Verhältnissen von Gemeineigentum wie unter extrem zugespitzter Privatisierung, in totalitären wie liberal demokratischen Systemen als Formkraft. Die Realisierung kann die Pole Selbstbestimmung und Individualisierung, Kollektivismus, Selbstverleugnung, Despotie, Egoismus, Egozentrik oder Altruismus, Solidarität und Loyalität ebenso wie Mitleid oder Unbarmherzigkeit umfassen und auf einer breiten Skala von Befugnissen, Hierarchien, Motivationen oder psychischer Strukturentwicklung changieren. Autonomie-Gemeinschaft sowie Freiheit-Regulation beziehen sich stets auf Akzeptanz, Ansehen, Geborgenheit, Sicherheit und Liebe jeweils als Schutz wie als Gestaltungsspielräume. Insofern sind Autonomie-Gemeinschaft / Regulation-Freiheit mit Verortung-Wechsel/Orientierung sowie Erkenntnis-Reflexion verschränkt.

Die Einheiten Verortung-Wechsel/Orientierung sowie Ausdruck/Benennung Erkenntnis/Reflexion umfassen die Fragen des Platzes, der Bindung und der Funktion in gesellschaftlichen Gruppen wie der Familie, dem Freundeskreis, Vereinen oder Schulen, am Arbeitsplatz, am Wohnort, in der Nation u.a.m., aber auch im Rahmen von Ideengebäuden, Weltanschauungen oder Religionen.

Die Einheiten Erhaltung/Bewahrung – Entwicklung/Entfaltung sowie Versorgtwerden – Gestaltung/Produktion zielen einerseits auf die Ausdifferenzierung des Humanvermögens sowohl im individuellen Sinne der Ausschöpfung der gattungsgemäßen Funktionsmöglichkeiten als auch im Sinne der Anwendung und Ausübung im Gesellschaftlichen Implikationszusammenhang, wie sie durch Bildung und Qualifizierung angestrebt wird. Sie werden aber auch in allen anderen sozialen Zusammenhängen virulent, wenn es um Befugnisse, Zuständigkeiten, Verantwortungen oder um Spielräume geht. Holzkamps zentralen Kategorien einer subjektwissenschaftlichen Lerntheorie, nämlich Weltaufschluss, Weltverfügung und Lebensqualität, liegt übrigens die gleiche Sicht zugrunde, wenn er von der „erreichbare[n] Realisierung verallgemeinerter gesellschaftlicher Handlungsmöglichkeiten“ (Holzkamp 1993,191) spricht.

Die psycho-soziale Seite des PIZ verwiest darauf, dass die verallgemeinerten gesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten des Subjektes mit seinen allgemeinen psychischen Prozessen in Relation stehen.

Die psycho-sozialen Lebenskräfte und Lebensbedürfnisse realisieren sich in Arbeit und Muße als produktive, reflexive und emotionale Formgebung.

Der Implikationszusammenhang von Lebenskräften und Lebensbedürfnissen stellt ein ganz spezifisches menschliches Produktivkraftpotenzial dar. Ihm verdanken wir, was wir Kultur nennen. Indem wir dieses Potenzial durch Bildung und Arbeit realisieren, entfalten wir unser Mensch-Sein.

Damit das Modell nicht im Sinne anthropologischer Konstanten fehlgedeutet wird, sei betont: Es handelt sich um ein Modell menschlicher Grundorientierungen im Vergesellschaftungsprozess, wenn man die Idee der Subjektentwicklung zugrunde legt. Ob man in Anlehnung an Fromm (1954) auch von Grundorientierungen der Persönlichkeits- oder sogar Charakterentwicklung sprechen könnte, hat mich dabei nicht interessiert, weil es mir um eine erweiterte Perspektive der Aufbereitung von Lehr- und Lernstoff bzw. Lernprozessen im Zusammenhang mit dem Bildungsauftrag geht.

Im Lehr- und Lernprozess können immer wieder Turbulenzen auftreten, um nicht von Störungen sprechen zu müssen. In diesen Situationen bietet der Implikationszusammenhang der Lebenskräfte und Lebensbedürfnisse, korreliert mit dem Gesellschaftlichen Implikationszusammenhang, eine Erkenntnismöglichkeit, diesen Turbulenzen auf die Spur zu kommen. Sie erscheinen nicht selten als Motivationsproblem oder Lernabwehr, denen es vorzubeugen gilt, sie rascher als gewöhnlich zu verstehen und produktiv zu wenden. Der Grund ist einfach. Während die Motivationstheorien und die Studien zur Lernabwehr tendenziell monokausalen Paradigmen verhaftet bleiben, stellt das Modell des Psychodynamischen Implikationszusammenhangs auf die Einheit psychischer, somatischer und sozialer Zusammenhänge ab.

In der konventionellen Unterrichtstheorie und in der pädagogischen Praxis werden die Turbulenzen als Störungen des Unterrichts und zumeist als schülerseits steuerbar und nur als Abweichung vom planungsgerechten Verlauf angesehen.

Abhilfe sinnt dann auf Flankierung der Abläufe. Dies auch dort, wo die Unterrichtskonzepte versuchen, die Motivation der Lernenden zu treffen und teilnehmerorientierte Arbeitsverläufe herzustellen. Fast immer wird davon ausgegangen, dass im Wesentlichen dreierlei die Motivation und die Kongruenz zwischen Vorabplanung und realem Verlauf bewerkstellige:

  • Erstens die Wahl von solchen Unterrichtsverfahren, bei denen die Lernenden äußerlich aktiv sein und weitestgehend selbstbestimmt arbeiten können.
  • Zweitens Assoziationen zu Lebensbereichen und Lebensgewohnheiten subkultureller Färbung, vor allen Dingen durch veranschaulichende Beispiele, wodurch die Lernenden „abgeholt“ werden sollen.
  • Drittens werden Klarheit und Eindeutigkeit der Aufgabenstellungen in Verbindung mit einem mittleren Leistungsniveau als Garanten für Aufmerksamkeit, Konzentration, Selbsttätigkeit, Mitarbeit und Leistungserfolg betrachtet.

Meine Position unterscheidet sich von der soeben skizzierten durch die Perspektive. Die sogenannten Störungen sind ja doch nichts anderes als das Signal eines inneren Prozesses, welcher nach einer individuell angemessenen Einmündung des Lehrangebotes in das eigene Denken, Fühlen und Wollen sucht!

Deshalb interpretiere ich die Turbulenzen nicht als Störungen, sondern als Hilferuf und gehe von den folgenden Thesen aus:

  • Die Befriedigung der Lebensbedürfnisse und Lebenskräfte sucht auf der Basis der Sozialisation und der psychischen Strukturentwicklung im Rahmen des jeweils sozio-kulturell Möglichen nach den günstigsten Kombinationen der Realisierung.
  • Die Befriedigung von Lebenskräften und Lebensbedürfnissen sowie Lernen bedingen sich wechselseitig. Lernen als entfaltendes Werden umfasst sowohl Aneignen, Einbinden und Wachsen als auch Abstossen und Umwandeln.
    Lernen bewirkt daher auch Disbalancen im System der Lebenskräfte und Lebensbedürfnisse.
  • Lernen als Subjektbildung bedeutet Überwindung. Neue Ebenen der Entwicklung und Entfaltung zu erlangen, setzt nämlich voraus, Blockierung von Wirkungskraft aufzuheben. Dies deshalb, weil Lernen immer auch an frühere Modalitäten von Befriedigung, anders ausgedrückt, weil es auch an Versagung erinnert.
  • Versagung erbringt abwehrende und schützende Reaktionsbildungen. In Lehr- und Lernprozessen wird dies als Widerstand sichtbar. Dieser scheint,unterschiedlich ausgeprägt, dem Erlangen neuer Entwicklungs- und Entfaltungsebenen entgegen zu stehen. Lernblockaden zu verhindern oder aufzulösen verlangt daher immer Entschlüsselung im Rahmen des Implikationszusammenhangs von Lebenskräften und Lebensbedürfnissen.

Die Entschlüsselung ist aus folgendem Grund unerlässlich:

Lebenskräfte und Lebensbedürfnisse erhalten, wie erwähnt, in den Prozessen der Sozialisation ihr soziale und zugleich individuelle Ausprägung. Da es in der Sozialisation immer auch um Normen und Wertigkeiten geht, sind zugleich positive und negative Sanktionen im Spiel. Alles, was die Lebenskräfte und Lebensbedürfnisse berührt, ist daher wert- und sanktionsbesetzt. Kommt es zu Unlust, Unbehagen oder gar Angst, weil die Kräfte- und Bedürfnisbalance gestört wird, dann ist mit Abwehrreaktionen zu rechnen. Neben Verweigerung, Leistungsversagen und Aggression lässt sich semantisch die gesamte Palette der aus der Psychoanalyse bekannten Abwehrmuster beobachten, ohne dass therapiebedürftige Verhaltensmuster vorlägen. Dies ist deshalb zu betonen, weil die psychoanalytischen Abwehrmuster auch beim gesunden Menschen und im Alltag vorkommen. In diesem Zusammenhang möchte ich auf die Schrift von Anna Freud „Das Ich und die Abwehrmechanismen“ hinweisen.

Es ist stets bedeutsam, in welchen Situationen bzw. Konstellationen des Unterrichts die Turbulenzen auftauchen. Dabei sind die Inhalte, die Methodenelemente, die kommunikativen Konstellationen und die Sprache zu beachten. Wenn z.B. eine ansonsten unauffällige, eher leistungsstarke Schülerin immer dann signifikante Begriffsstutzigkeit an den Tag legt, wenn Fachterminologien eine Rolle spielen, dann sind wahrscheinlich nicht mangelnde Sprachbegabung oder Begabungsgrenzen die Ursachen. Begriffsstutzigkeit kann als eine Art der Isolierung verstanden werden. Irgendeine ihr bekannte aber unbewusste soziale Abwertung von Fachterminologie könnte in unserem Fall die Schülerin daran hindern diese zu verstehen und sich anzueignen. Der Gebrauch von elaborierten Sprachcodes – um im Beispiel zu bleiben – hat etwas mit sozialer Schichtzugehörigkeit zu tun und kann daher durchaus auf Ablehnung stoßen. Sprachcodes bedürfen deshalb im Unterricht immer einer sozial entängstigenden, ermutigenden und vor allem pragmatischen Begründung. Die Schülerinnen und Schüler können so ihre Ängste vor einer eventuellen sozialen Abwertung als hochgestochen auffangen.

Soviel als Anregung in dieser Filmsequenz.

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