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Erziehungswissenschaft vernetzt


Lehrbuch: Übersicht

Ein Beispiel für Konstitutionslogik

Um die Ausführungen zu den Konstitutionslogiken noch ein wenig plastischer erscheinen zu lassen, biete ich Ihnen nun ein Anschauungsmaterial aus der Zeit der Entstehung der Zünfte an. Die gesellschaftspolitische Grundkausalität des mitteleuropäischen Systems der Aus- und Weiterbildung lässt sich nämlich am besten erkennen, wenn man einen Blick auf seine Entstehungsgeschichte wirft.

Nach dem Zerfall der Sippenverfassung entstehen in Europa zwischen dem achten und elften Jahrhundert die Gilden. Gilden waren Genossenschaften, die der gegenseitigen Unterstützung und dem Rechtsschutz dienten. Aus ihnen gehen später die Zünfte, die Kaufmannsgilden und die Hansen hervor. Sie regelten im Rahmen der dargestellten Verteilungs- und Zugangsrationalität den Weg in eine Ausbildung, die Berufsausübung selbst und die Beziehungen zu den Liefer- und Abnehmermärkten. Sie hatten sozialpolitische, ordnungspolitische, religiöse und sittlich-kulturelle Funktionen. Ferner dienten sie der genossenschaftlichen Unterstützung und der Aufsicht (vgl. Stratmann 1993, Le Goff 1993). Zu den einflussreichsten Bürgergruppen der mittelalterlichen Stadt entwickelten sich nach und nach die Kaufmannsgilden, deren eigenes Recht stark zum späteren Stadtrecht beitrug. Man kann sagen, dass die für Mitteleuropa bis heute hin charakteristische Form der Berufsausbildung in Form der Lehre aus dem Doppelprozess der Stadtentwicklung und der expandierenden Märkte erwuchs. Lehrling durfte werden, wer von „ehrbarer Geburt“ war und das Lehrgeld zahlen konnte.

Der mittelalterliche Lehrling, aber auch der Geselle und Gehilfe, lebten im Hause des Meisters bzw. Prinzipals. Lehre, Gesellen- und Gehilfenzeit verliefen über die familiale Ein- und Anbindung zugleich als allgemeine Sozialisation, d.h. als Einübung in die Normen, Werte und Verhaltensmuster zünftlerischen Lebens. Musste doch der Meister oder Prinzipal der ständischen Korporation, d.h. der Zunft oder Gilde, gegenüber dafür gerade stehen, dass er mit der Einhaltung der christlich bestimmten Hausordnung zu beruflich-fachlichen wie allgemeinen Verhaltensmustern erzog und anhielt. Da die Wertmuster des jeweiligen Standes zugleich gesellschaftliche Wertmuster waren, fielen fachliche Qualifizierung und gesellschaftsbezogene Erziehung zusammen. So enthielten beispielsweise Handbücher für die Lehrlingserziehung auch Verhaltensregeln des täglichen Lebens, die nichts mit der Berufsausübung im engeren Sinne zu tun hatten. In der ständischen Gesellschaft war die Arbeitstätigkeit des Einzelnen in eine nach Berufen untergliederte gesellschaftliche Ordnung eingebettet. Charakteristika der ständischen Ordnung waren:

  • Feste gesellschaftliche Positionierungen;
  • Verteilungsregeln der Arbeit und der zugehörigen Ressourcen;
  • Wert- und Verhaltensmuster (Ethik) auf christlicher Basis;
  • Vorgegebenes Verhaltensrepertoire in Familie, Beruf und Öffentlichkeit.

Die städtischen Regulatoren für dies alles waren die Zünfte und Kaufmannsgilden, und die zugehörige erzieherische bzw. qualifizierende Institution war die Lehre mit dem Lernort Haus des Meisters oder Prinzipals. Am Beispiel der mittelalterlichen Lehre wird also ersichtlich, dass die qualifizierenden Institutionen einer Gesellschaft neben ihrer speziellen Funktion der Vermittlung von Wissen, Können und Fertigkeiten zur Ausübung konkreter Arbeit die generelle Funktion haben, das Ordnungsgefüge der Gesellschaft zu reproduzieren. Nun ist diese Reproduktionsfunktion ihrem Charakter nach ambivalent. Sie zielt einerseits auf Tradierung und Erhalt des Bestehenden, andererseits muss sie den realisierten gesellschaftlichen Veränderungen folgen, weil sie sonst ihren Sinn verliert. Je stärker die Ausbildung an ständische Geschlossenheit und Abgrenzung und damit an Tradierung von Erfahrung gebunden war, desto heftiger geriet sie im Laufe der Geschichte mit dem technischen, ökonomischen und sozialen Strukturwandel in Krisen. Die Wanderschaft der Gesellen, die ebenso der fachlichen Horizonterweiterung diente wie die Reisen der Kaufleute, reichte nämlich weder aus, das ständische Ordnungsgefüge auf Dauer zur reproduzieren noch den Modernisierungszwängen zu entsprechen. Mit der Einrichtung von Manufakturbetrieben im 18. Jahrhundert geriet schließlich das Handwerk unter so starken Konkurrenzdruck, dass die Lehre sich nicht selten von einem Ausbildungs- in ein reines Arbeitsverhältnis verwandelte. Zur Sicherung eines qualifizierten Nachwuchses entstand somit das Erfordernis, die Ausbildung getrennt von der betrieblichen Leistungserstellung, und das heißt schulisch zu organisieren. Dies wiederum warf einerseits die Frage der Vorbildung in Schreiben, Lesen, aber auch Rechnen auf, andererseits die Frage nach einer betriebsübergreifenden fachlichen Systematik, wodurch allgemeine Qualitätsstandards angestrebt werden konnten. Interessanterweise kommt es zum ersten Mal im Bereich des Maurer- und Zimmererhandwerks zu einer Berufsschulpflicht im modernen Sinne.

1769 schreibt der Markgraf von Baden den Besuch von Zeichenunterricht vor, welcher als der Vorläufer der modernen gewerblichen Fachkunde angesehen werden kann (vgl. Stratmann 1993,499). Im Bauhandwerk – man denke nur an die Leistungen der mittelalterlichen Dombauhütten – hatten systematische bzw. technologische Kenntnisse allgemeiner Art bereits eine große Tradition. Im Kaufmännischen war der entsprechende theoretische Ausbildungsbedarf vor allem durch die Beherrschung der fremden Sprachen und der Theorie des Rechnungs- und Frachtwesens sowie durch die Maß- und Münzsysteme gegeben.

Mit dem Merkantilismus und mit dem Verfall der feudalistischen Ordnung gerieten die Zünfte in eine Krise (vgl. Stratmann 1967). Damit wurden im Prinzip auch die bildungsbezogenen Grundfunktionen, die sie bis dahin gesichert hatten, in einen Freisetzungsprozess gezogen. Die jeweilige Reorganisation der freigesetzten Grundfunktionen, nämlich der Übermittlung von allgemeinen Wert- und Verhaltensmustern, von Zugängen zu Arbeit und Beruf, von gesellschaftlicher Positionierung, spitzt sich zu auf die Grundfragen der Kombination von Allgemeinbildung und Berufsbildung sowie von Theoriewissen und praktischem Erfahrungswissen. Verbunden damit ist die Frage nach den jeweiligen Lernorten, speziell nach Schule und Betrieb.

Die hier beschriebene Bedeutung der gesellschaftspolitischen Grundfunktionen lässt sich bis auf den heutigen Tag nachweisen, auch wenn sie dabei unterschiedlichen Konjunkturen folgt. So können Sie zum Beispiel untersuchen, welche verteilungspolitischen Wirkungen die Tarifverhandlungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden haben. Sie können sie aber auch im Steuerrecht nachvollziehen oder aber anhand des Armuts- und Reichtumsberichtes der Bundesregierung erörtern. Die Befriedungsrationalität studieren Sie günstigerweise anhand des Sozialgesetzbuches oder des Rechtswesens insgesamt. Das Bildungswesen ist ein gesellschaftlicher Handlungsbereich, an dem die Logik der Zugangsrationalität studiert werden kann und zugleich die Art und Weise, über welche Schulformen welches Wissen den unterschiedlichen gesellschaftlichen Statusgruppen zugeteilt wird. Welches sind nun die Bewegungsgesetze, denen die gesellschaftliche Reproduktion folgt. Mit dem obigen Beispiel ist das schon implizit angesprochen werden. Ich hatte dort den Begriff der Freisetzung eingeführt, der um den Begriff der Vergesellschaftung erweitert werden muss. Damit komme ich zum Theorem Freisetzung und Vergesellschaftung

Das Theorem Freisetzung und Vergesellschaftung

Am Anschauungsmaterial „Zünfte“ können Sie ersehen, dass gesellschaftliche Sach- und Sinnzusammenhänge, d.h. gesellschaftliche Strukturen niemals statisch sind. Sie unterliegen einem Prozess permanenter Veränderung. Dieser Prozess vollzieht sich als Freisetzung von Zusammenhängen und Verschränkungen sowie als Neukonfiguration. In ihr fügen sich alte, veränderte und neue Sachkomplexe und Werte aufgrund der Konstitutionslogik erneut, aber verändert, zusammen. Diese Seite des historischen Prozesses nenne ich in Anlehnung an Negt und Kluge Vergesellschaftung (vgl. Negt und Kluge 1976). Instanzen und Institutionen, Wissens- und Wertbestände, Urteils- und Handlungsmuster, Lebensgewohnheiten und nicht zuletzt die Organisationsformen der Arbeit sind in den Prozess von Freisetzung und Vergesellschaftung einbezogen.

Das Theorem von Freisetzung und Vergesellschaftung dient dazu, historische Veränderungen in ihrer Richtung und Reichweite differenzierter zu erfassen und zu beurteilen. In historischen Umbrüchen verändern sich ja nicht nur einzelne gesellschaftliche Bereiche, sondern das gesellschaftliche Gesamtgefüge und damit sogar die Traditionsbestände des Denkens, Fühlens und Wollens bzw. die Mentalitäten. Das Freigesetzte fordert zur Überwindung der entstandenen Diffusionen neue gesellschaftliche Formgebungen heraus, damit neue soziale Entsprechungen bzw. neue gesellschaftliche Sinngebungen entstehen können. In diesem Prozess kommt dem Bildungssystem eine steuernde und regulierende Aufgabe zu.

Für die angesprochenen Sachverhalte gibt Ulrich Beck in seinem Buch Risikogesellschaft – Auf dem Weg in eine andere Moderne eine sehr gute und nachvollziehbare gegenwartsbezogene Analyse und damit Anschauung von dem mit Freisetzung und Vergesellschaftung gemeinten. Seine Fragestellung setzt an der „Verteilungslogik von Modernisierungsrisiken“ an. Das von Beck diagnostizierte Risikopotential trägt gesellschaftliche, biographisch-individuelle und kulturelle Züge. Insgesamt geht es dabei um die Veränderung bzw. Modernisierung der gesamten Lebensweise sowie die Austauschverhältnisse mit der Natur. Kommentar: Damit ist bei Beck z.B. gemeint, dass das naturverbrauchende Produktions- und Transportwesen einem Modernisierungszwang unterliegt. Wenn beispielsweise allenthalben von Digitalisierung gesprochen wird, so begründet diese den Zwang zur Modernisierung und damit ein verändertes Mensch-Natur-Verhältnis. – Ende

Das Zusammenwirken der gesellschaftlichen, biographisch-individuellen und kulturellen Risikopotentiale insgesamt führe nun zu einer gewissen Erosion des Binnengefüges der Gesellschaft. Dieses Binnengefüge lässt sich kategorial fassen unter Produktionsstruktur, soziale Klassen, Familienformen, Geschlechterlagen, Ehe, Elternschaft und Beruf. Die unter diese Kategorien zu subsumierende Realität weist nach Beck vor allem auf eine Auflösung der Bindungskräfte hin. So halten z.B. Eheschließungen nicht mehr ein lebenlang. Das Statistische Bundesamt zeigt so für das Jahr 2019, dass die meisten der in diesem Jahr geschiedenen Ehen (82,2 %) nach einer vorherigen Trennungszeit von einem Jahr geschieden werden. Die Scheidungen nach dreijähriger Trennung machten einen Anteil von 16,8 % aus. Bei 1 % waren die Reglungen zur Scheidung vor einjähriger Trennung oder andere Vorschriften maßgebend.

Diese Bindungserosion betrifft auch andere Institutionen, also Parteien, Gewerkschaften, Kirchen etc. Die Auflösung traditionaler Bindungsformen führe eben zu einer Enttraditionalisierung und damit zu Verunsicherungen, die neue Suchbewegungen und neue soziale Identitäten suchten. Sie werden unter den Begriff Vergesellschaftung gefasst, der als Erscheinungsform eine Individualisierung des zukünftigen Risikos der Lebensbewältigung impliziert. Soweit eine relativ aktuelle Anschauung der Prozesse von Freisetzung und Vergesellschaftung. Prozesse von Freisetzung und Vergesellschaftung lassen sich auch im Bildungswesen nachweisen. Das folgende Schaubild erfasst wesentliche Beziehungen und Konstellationen und ist wie folgt zu lesen:

Das Schaubild unterstellt zunächst, wie bei Beck, einen Prozess, der durch die Begriffe Transformation, Modernisierung, Individualisierung, Pluralisierung von Lebenslagen, enger Finanzrahmen unterlegt ist. Diese Entwicklungen oder neuen Ausgangsbedingungen zwingen das Bildungssystem aus traditionalen Beständen und Auffassungen „auszusteigen“. Eine der Neuerungen ist die Einführung eines „New Public Management“ (Buchmann), sodann Bildungsstandards mit einer Kompetenzorientierung des Unterrichtes und permanenten Lernstandserhebungen und nicht zu vergessen der Inklusion. Das alles hat seinen Niederschlag, wie auf der rechten Seite der Folie aufgeführt, in rechtlichen Dokumenten wie den Verwaltungsanordnungen für die Schulen. Nicht aufgeführt sind die Veränderungen, die das Schul- und Unterrichtswesen zu bedenken hat hinsichtlich der von Beck ausgeführten Individualisierung und neuen Sozialcharakteren.

Zum Schluss dieser Einheit möchte ich Sie mit einer Aufgabe betrauen: Das Thema Individualisierung in Zusammenhang mit dem Thema Digitalisierung zwingt dazu, neue Internetschulen zu etablieren. Schreiben Sie einen Essay, der die neue Schulform charakterisiert und den Einfluss auf die permanente Kontrolle von Lehraktivitäten durch die Öffentlichkeit. Nutzen Sie dazu auch die Informationen aus dem Netz. Diskutieren Sie in diesem Zusammenhang die Prinzipien Freisetzung und Vergesellschaftung.

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… zum Weiterlesen den Beitrag SUBJEKT-OBJEKT-VERMITTLUNG

Infos zum Beitrag

Dieser Beitrag wurde verfasst von Prof. Dr. Richard Huisinga.

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