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Erziehungswissenschaft vernetzt


Lehrbuch: Übersicht

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Das Fundamentum

Meine Damen und Herren,
liebe Studierende,

wie in vielen unserer Vorlesungen und Seminare zur Erziehungswissenschaft beginnen wir auch in diesem Digitalen Lehrbuch mit dem, was wir das Fundamentum nennen.

Was ist damit gemeint? Damit ist gemeint, dass jede Wissenschaftlerin, jeder Wissenschaftler einen (Welt)Standpunkt einnimmt, von dem aus sie oder er versucht, die Welt ein wenig besser verstehbar zu machen. Das ist ja der einzige Sinn von Wissenschaft. Nämlich eine größere Verfügbarkeit über Abhängigkeitsstrukturen zu erlangen und diese größere Verfügbarkeit im Sinne einer Steigerung von grundsätzlicher Lebensqualität für alle Menschen auch nutzbar zu machen.

Dieses Fundamentum, im Wissenschaftsbetrieb erkenntnisleitendes Interesse (vgl. Habermas 1994) genannt, kann aber ganz unterschiedlich gefasst werden, womit zugleich das Problem der Wahrheitsfindung via Wissenschaft gegeben ist. Hinter dem Fundamentum verbergen sich nicht selten Vorannahmen über die Wirklichkeit oder Auffassungen über das Verständnis von Wissenschaft. Als Studierende haben Sie es immer mit diesem erkenntnisleitenden Interesse zu tun. Dahinter verbergen sich also ganz unterschiedliche Ausgangspositionen der Argumentationsentwicklung und Forschungsarbeit, die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einnehmen bzw. praktizieren.

Die für Studierende zentrale Schwierigkeit besteht darin, dass sie sehr häufig diesen Standpunkt, dieses Fundamentum der Hochschullehrenden nicht identifizieren können. So können sie Lehrauffassungen kaum vergleichen und schon gar nicht auf die Konsequenzen hin erfassen. Notgedrungen entsteht so mehr Verwirrung als Klarheit. Das Fundamentum lässt sich nämlich in aller Regel nicht so schnell ausmachen; es will erschlossen werden und zwar aus den Texten und Aussagen der jeweils Lehrenden. Man muss dieses Erschließen üben. Hinzu kommt, dass Lehrende ihren Standpunkt nur zu häufig nicht genau explizieren. Im Prinzip handelt es sich bei dieser Unterlassung um eine gewisse Nachlässigkeit der Lehrenden.

Um den Studierenden den Stellenwert einer Lehrauffassung oder Lehrmeinung bzw. die Reichweite von Theorien zu verdeutlichen, muss fairerweise das Bezugssystem offengelegt werden. Da jede Aussage, jede wissenschaftlich begründete Aussage in einen sozialen Kontext eingebettet ist oder einem Wertehorizont entstammt bzw. einem Interesse, bedarf es dessen Klärung.

Erst so kann nachvollziehbar und deutlich werden, zu welchen Folgen und Konsequenzen die getroffenen Aussagen, also in unserem Fall für das Bildungssystem, führen und damit im weitesten Sinne für die Gesellschaft und ihre Mitglieder. Aus diesem Grunde weisen Einführungen in die Theorien sowie ihre Methoden der Erziehungswissenschaft und die Praxis des Bildungssystems auf diesen Zusammenhang hin.

In der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie (auch Epistemologie oder Gnoseologie) werden solche Fundamente klassifiziert. Sie sind ein Hauptgebiet der Philosophie, das die Fragen nach den Voraussetzungen für Erkenntnis, dem Zustandekommen von Wissen und anderer Formen von Überzeugungen umfasst und danach fragt, wie diese methodisch zu sichern sind.

Einige dieser Fundamente wollen wir im Folgenden ansprechen. Sie im Detail auszuführen, gelänge wohl nur in einem eigenständigen Seminar.

In der Entwicklung der erziehungswissenschaftlichen Fachdisziplin wird zunächst die sogenannte Geisteswissenschaftliche Pädagogik als ein Fundament hervorzuheben sein. Von Geisteswissenschaft spricht man in Abgrenzung zu den naturwissenschaftlichen Paradigmen der Forschung. Eine weitere zentrale Position nimmt die Empirische Wissenschaft, häufig auch als Positivismus bezeichnet, ein. Empirisch deshalb, weil sie den Versuch unternehmen, empirische Denkweisen zum zentralen Bestandteil der Erziehungswissenschaft zu machen. Insgesamt handelt es sich bei der Empirischen Wissenschaft um eine sehr vielschichtige Forschungsauffassung. Die paradigmatische Position der Kritischen Erziehungswissenschaft orientiert sich vor allem sozialwissenschaftlich. Damit ist gemeint, nicht einfach einem Wertfreiheitspostulat oder einer normativen Orientierung von Erziehungswissenschaft zu folgen, sondern die sozialen Entstehungs- und Verwertungszusammenhänge, also die ökonomischen und politischen Bedingungen von pädagogischen Aussagen und von empirischen Untersuchungen mit zum Aufgabenbereich von Wissenschaft zu machen (Rahmenbedingungen/Brasilien).

Entstehungszusammenhang
Rahmenbedingungen
Empirie

Als weitere Fundamentalauffassungen in der Erziehungswissenschaft gelten die Transzendentalphilosophische Pädagogik, die Praxeologische Pädagogik, die Historisch-materialistische Pädagogik, die Systemtheoretisch orientierte Erziehungswissenschaft aber auch feministische sowie ökologische Ansätze und nicht zuletzt der Konstruktivismus.

Mit diesen Hinweisen wollen wir Ihnen einen Weg ebnen, dass Sie, wenn Sie erziehungswissenschaftliche Texte lesen und bearbeiten, wissen müssen, dass immer, vom jeweiligen Standpunkt aus, Wirkungen und Folgen für das Bildungssystem entstehen können bzw. zu bedenken sind. Deren Implikationen können Rückwirkungen auf die Struktur der Gesellschaft und die Funktion von Demokratie haben.

Die Lehre bzw. die Theorie der arbeitsorientierten Exemplarik von Ingrid Lisop und Richard Huisinga, welche wir weiter verfolgen werden, setzt einen reproduktionstheoretischen und auch praktischen Standpunkt voraus. Was heißt das? Die arbeitsorientierte Exemplarik geht davon aus, quasi als Axiom, dass sich jede Gesellschaft reproduzieren muss, wenn sie weiterbestehen will. Es ist dies der einfache Reproduktionsgedanke. Sie können jetzt überlegen, ob diese Auffassung tragfähig ist und einen Anspruch auf Wahrheit hat. Aus dieser Grundfigur des Denkens resultieren dann Teilfragen bzw. Teilaspekte unserer weiteren Betrachtung und Lehrauffassung.

Zunächst kann die Gesellschaft nur weiter existieren, wenn die natürliche Reproduktion gesichert ist. Natürliche Reproduktion heißt, dass die Menschen Kinder zeugen. Sie können das Tutorium jetzt unterbrechen und überlegen, mit welchen aktuellen Problemlagen Industrieländer konfrontiert sind und in welchen sprachlichen Formen dabei das Erfordernis der natürlichen Reproduktion auftritt. Sie können die Reproduktionsfrage aber auch auf Schwellenländer oder Länder der Dritten Welt ausweiten, was zu anderen Problemlagen führt. Diese Überlegungen verlängern Sie dann in das Erziehungs- und Bildungswesen und werfen Fragen auf.

Welche Gesichtspunkte uns beschäftigen würden, möchten wir Ihnen kontrastierend mit Stichworten andeuten. Fragen der natürlichen Reproduktion in der Bundesrepublik Deutschland stehen immer dann im Mittelpunkt, wenn über den so genannten demographischen Wandel (Link) diskutiert wird. D.h. zunächst, die Reproduktionsquote liegt unterhalb der Sicherung des Bevölkerungsstandes. Sie schrumpft also in ihrem Gesamtbestand, weil weniger Kinder geboren werden. Sie können nunmehr die Gründe für diese Entwicklung erforschen und diese Tatsache, die kaum zu leugnen ist, in das Erziehungs- und Bildungswesen verlängern. Danach diskutieren Sie die diesbezüglichen Folgewirkungen. Fangen Sie bei den Krippen an und enden in der Erwachsenen- und Weiterbildung. Schon diese einfache Betrachtung wirft viele Fragen auf.

Der Schrumpfungsprozess wird z.B. in der Bundesrepublik Deutschland nur durch Zuwanderung aufgefangen. Da die zuwandernden Menschen in aller Regel aus anderen Kulturkreisen mit abweichenden Grundauffassungen stammen, entstehen weitere Folgeprobleme:  eines davon ist das Integrationsproblem. Es beschäftigt in der Erziehungswissenschaft eine ganze Forschungsgruppe mit entsprechender Theoriebildung.

Sie können jedoch auch die Verschiebung der Relation in der Bevölkerungsstruktur in den Blick nehmen. Es ist  Ihrem Scharfsinn überlassen, die Folgewirkungen von Veränderungen in der natürlichen Reproduktion auch fürs Rentensystem, für die Altersstruktur der Bevölkerung, für die Arbeitsmarkt- und Berufsentwicklung, des gesellschaftlichen Bewusstseins usf. eigenständig zu durchdringen.

Neben der natürlichen Reproduktion spielt die Reproduktion der Produktionsmittel eine große Rolle für den Erhalt einer Gesellschaft. Moderne Gesellschaften leben ja nicht mehr unmittelbar aus den Ressourcen der Natur. Technische Gerätschaften, Werkzeuge und Maschinen dominieren den Produktionsprozess (Stichwort: Technikentwicklung). Sie unterliegen jedoch einem Verschleiß und müssen im Laufe der Zeit immer wieder erneuert werden, weil ansonsten der erreichte Wohlstand gefährdet wird.

Das Ergebnis des Produzierens gipfelt ferner in einer spezifischen Güterstruktur, die zugleich eine Verteilungsstruktur ist. Wie eine solche Güterstruktur aussehen kann, lässt sich trefflich beim französischen Soziologen Pierre Bourdieu in seiner Publikation Die feinen Unterschiede nachlesen. Es geht dabei aber nicht um die Güterstruktur als solches, sondern um ihre sozialstrukturierende Wirkung. Also Stände, Klassen, Schichten, Milieus, die sich dieser Warenkörper bedienen und damit zugleich gesellschaftlichen Status organisieren. Die Kategorien Stände, Klassen, Schichten und Milieu entlehnen wir dabei der sozialen Ungleichheitsforschung. Sie spielen im Bildungswesen eine wichtige Rolle dort, wo es um die Frage der Wahrung auf Chancengleichheit geht.

Damit ist jedoch noch nicht die Gesamtstruktur einer Gesellschaft markiert. Deshalb entsteht unter anderem die Frage, welche Reproduktionsleistung das Erziehungs- und Bildungswesen erbringt. Einen Reproduktionsauftrag, den man für das Erziehungs- und Bildungswesen annehmen darf, ist die Reproduktion des Wissens, die Weitergabe des Wissens an die nächste Generation. Aber es ist nicht das Wissen allein, welches reproduziert wird. Zugleich werden Normen, Leistungsprinzipien, Rollen, Einstellungsmuster und Verhaltensweisen reproduziert oder Zugänge zu weiteren gesellschaftlichen Einrichtungen. Es ist vornehmlich die Sozialisationstheorie, welche in diese komplexen Vorgänge Licht zu bringen versucht.

Nun sichern nicht nur die gesellschaftliche Güterproduktion sowie das Erziehungs- und Bildungswesen die Reproduktion der Gesellschaft. Allgemeiner betrachtet gelangen auch Institutionen wie Kirchen, Gewerkschaften, politische Parteien, Verbände, Interessensgemeinschaften, Organisationen etc. in das Blickfeld. Zu den Institutionen rechnen auch Einrichtungen wie das Institut der Ehe oder das Institut der Mitbestimmung. Sie sichern für ihre Klientele Verteilungsansprüche, Zugänge zu Ressourcen oder anderweitige Leistungen. Offensichtlich unterliegen diese Institutionen aber einem Veränderungsprozess, der ihre Reproduktionsfunktion in Frage stellen könnte und damit ihre gesellschaftliche Gestaltungsmacht. Eventuell entstehen auch neue Institutionen wie z.B. die Organisation ATTAC, die sich mit der gesamten Bandbreite von Problemen neoliberaler Globalisierung befasst und als Bildungsbewegung begreift oder Blogs in den sozialen Medien, wie der der brasilianischen Influencerin Alice.

Aber zurück zu den Veränderungsprozessen. Zunehmend ist zu beobachten, dass insbesondere die Reproduktionsfunktion von Schulen in Zweifel gezogen wird. Die Schule als Institution verliert an Legitimation, könnte man sagen. Die sogenannte Schulenhasserliteratur könnte dafür ein Beleg sein. Es gibt aber auch solide Untersuchungen wie die von Katarina Rutschki, welche die antidemokratischen und normierenden Strukturen im Schulwesen in historischer Perspektive nachweist, die die bestehenden Herrschafts- und Einflussverhältnisse stabilisiert. Aktueller ließen sich die PISA-Untersuchungen in Hinblick auf diese Funktion auswerten.

Mit Verweis auf die Verteilungswirkung der produzierten Güter haben wir die Statusdistribuierung benannt. Mit ihr in Zusammenhang steht die Frage, ob es möglich ist, die angestammten Milieus zu verlassen. Es ist dies die Frage nach der sozialen Mobilität in einer Gesellschaft, die Teil des historischen Erbes des Liberalismus ist. Danach sollte, wer leistet, auch belohnt werden – auch mit dem gesellschaftlichen Aufstieg. Eine aktuelle Studie der OECD aus dem Jahr 2021 zeigt für die Jahre 1995 bis 2018 jedoch ein großes Risiko, aus der Mittelschicht abzusteigen. Wer in Deutschland also aus der Mittelschicht herausfällt, hat es heute deutlich schwerer, wieder „aufzusteigen“. Wendet man den Mobilitätsgedanken auf das Schulsystem an, dann geht es um Durchlässigkeiten zwischen einzelnen Schulformen. Gerade die Diskussion um die Gesamtschule Anfang der 1970er Jahre hat zu erbitterten Auseinandersetzungen geführt und sie ist bis heute nicht wirklich geklärt.

Über die Möglichkeit des gesellschaftlichen Aufstiegs oder Abstiegs hinaus werden Lebensstile reproduziert, Wohnformen und schließlich auch Verkehrsformen.

Soviel zur erkenntnistheoretischen Bedeutung des Denkens im Paradigma der Reproduktion für die Erziehungswissenschaft.

Nun geht es uns nicht darum, ein Tableau oder eine Taxonomie der Reproduktion zu entwerfen. Das wäre nicht der Sinn der Übung. Unser Anliegen ist vielmehr, die Augen dafür zu öffnen und zu prüfen, ob sich mit der Reproduktion eine veränderte Form von Gesellschaftsstruktur ergibt, die eine erweiterte Aufklärung, eine größere Autonomie gegenüber Zwängen, ein Mehr an Gestaltungsmöglichkeiten und zusätzliche Lebensqualität für alle sicherstellt. Es ist dies nämlich die Fragestellung, um die es uns geht: Nicht Reproduktion an sich, sondern Reproduktion wofür, für wen und Reproduktion woraufhin. Es geht also darum, das Tertium zu konzipieren und damit die Dimension zu identifizieren, auf der es variiert .

Dabei entsteht das Problem, sehr dynamische Prozesse und Entwicklungen erklären zu müssen. Verändert sich eine Gesellschaft nur kaum oder nur in Randbereichen, dann sprechen die Soziolog:innen von einer traditionalen Gesellschaft. Die modernen Industriegesellschaften sind aber allesamt weit davon entfernt, traditionale Gesellschaften zu sein. Deswegen ist der Terminus moderne Gesellschaften geprägt worden. Das zeigt sich auch in den Begrifflichkeiten, mit denen versucht wird, die historisch entstandenen Strukturen zu kennzeichnen. Als Beleg verweisen wir Sie auf das Buch von John Kenneth Galbraith mit dem Titel: The new Industrial State (1967). Schon ein wenig später spricht Daniel Bell von der Post-Industrial Society (1973). Und 1997 kreiert Ulrich Beck den bezeichnenden Begriff Zweite Moderne (Link).

Erziehungswissenschaftliche Forschung und ihre Praxis steht deshalb vor der Aufgabe, diese Prozesse, diese Vorgänge als Ganzes zur Aufklärung und zur Erkenntnis zu bringen – und zwar in einem doppelten Sinn: als curricular organisierte Wissensstruktur und reflexiv als Erkenntnisstruktur. Das ist eine sehr anspruchsvolle Aufgabe.

Lassen Sie uns den Reproduktionsstandpunkt noch einmal erklärend und ergänzend auf die Schule beziehen. Die erziehungswissenschaftliche Forschung bezieht sich ja, quantitativ betrachtet, auf das gesellschaftliche Handlungsfeld Schule, wenn man von der Erziehung in der Familie oder der öffentlichen Erziehung im Rahmen sozialer Arbeit einmal absieht. Einflechtend sei erläutert, dass wir von Erziehungswissenschaft sprechen, wenn die Forschung bzw. das reflexive System der Wissenschaften gemeint ist und von Pädagogik, wenn es um das Schul- oder allgemein das Bildungswesen mit seinen verschiedenen Institutionen als gesellschaftliches Handlungsfeld geht.

Wie wir bereits gesagt haben, liegt eine Funktion des Bildungswesens in der Wissensreproduktion. Auch hier betrachten wir nicht die Wissensreproduktion an sich, also nicht, ob das Wissen reproduziert wird. Wir fragen danach, wie das Wissen reproduziert wird; d.h. Welche Mittler kommen dabei zur Anwendung?; Welche Formgebung oder Struktur nimmt das aufbereitete Wissen an?; Welche Organisationsformen gelangen zum Einsatz? und nun ganz wichtig; Woraufhin wird das reproduzierte Wissen den Schülerinnen und Schülern dargeboten?; Zu welcher Erkenntnis sollen sie geführt werden oder gelangen, um so ihren Verstand und ihre Urteils- und Kritikfähigkeit zu schärfen?

Mittler
Struktur
Organisationsform
Erkenntnisziel

Denn die Urteils- und Kritikfähigkeit zu entwickeln ist eines der zentralen Ziele eines demokratischen Gesellschaftssystems. Das Wissen selbst, dies lässt sich jetzt vergewissernd sagen, hat keinen Eigenwert. Der Sinn des Wissens entspringt eben einem Dritten, nämlich dem Beitrag und der Fähigkeit zur Gestaltung von Gesellschaft und der Auflösung von Abhängigkeitsverhältnissen.

Die Urteils- und Kritikfähigkeit bezieht sich im Modus der Reproduktion sodann darauf, ob das aufbereitete Wissen z.B. dazu beiträgt, die Chancengleichheit zu verbessern, den Abbau sozialer Ungleichheit zu ermöglichen, soziale Mobilität zu erzeugen, um Exklusionsformen zu vermeiden oder etwa Abhängigkeitsverhältnisse aufzulösen.

Nun dürfte die Institution Bildungswesen in allen Gesellschaften hochgradig rechtlich geregelt sein. Dadurch entsteht eine weitere Sichtweise auf ihre Funktion. Zu diesem Zwecke müssen die jeweils gültigen Bildungsdokumente daraufhin analysiert werden, in welcher Weise sie die darin niedergelegten gesellschaftlichen Strukturen lediglich als Status quo sichern oder darüber hinausweisen.

Für die deutsche Berufsausbildung, welche durch zwei zentrale Lernorte gekennzeichnet ist, nämlich Schule und Betrieb, sei dies für den Lernort Schule/Berufskolleg beispielhaft gezeigt.

Der diesbezügliche Verordnungstext gliedert die organisatorische Binnenstruktur des Kollegs und damit die Ausbildungsgänge nach der Wirtschaftszweigsystematik. Die Ausbildungsstruktur ist also in Analogie zu den vorfindlichen Branchen gegliedert und markiert damit Zugänge zum Arbeitsmarkt. Genau an diesem Punkt entstehen die Reproduktionsfragen. Die Analogie soll sicherstellen, dass die Berufsausbildung dem Gesichtspunkt der Allokation von Arbeitskräften genügen soll. Was aber, wenn die jungen Menschen andere Vorstellungen von Arbeit und ihrer zukünftigen Lebensform haben? Was, wenn die Betriebe ihrerseits andere Vorstellungen entwickeln oder gar durch Strukturwandelprozesse erodieren. Wenn also Mismatches im Ausbildungs- und Arbeitsmarkt entstehen, kann sich die gewählte Struktur als ungeeignet zur Lösung der Reproduktion erweisen. Derartig in Dokumenten festgeschriebene Strukturen sind also zu hinterfragen und es ist eventuell nach alternativen Lösungen zu suchen.

Was zu erkennen ist: Die Dokumente und die ihnen zugeordneten Handlungsinstitutionen reproduzieren eine gesellschaftlichen Struktur. Ob die in den Dokumenten abgebildete Struktur sich als relevant erweist oder eben auch nicht, darüber hat sich erziehungswissenschaftliche Forschung Gedanken zu machen.

Abschließend wollen wir noch ein wichtigen Aspekt formulieren. In der Wissenschaft geht es ja doch um Fragen der Erkenntnismöglichkeit und um Fragen der Wahrheit. In den Schulen ist das nicht viel anders. Lehrerinnen und Lehrer haben tagtäglich den Schülerinnen und Schülern die Welt zu erklären. Auch sie müssen ihr Vorgehen, ihr Fundamentum offenlegen. D.h. sie müssen ihre bildungstheoretische Position begründen. Wir können uns im Augenblick kein Urteil darüber erlauben, ob denn in den Studienseminaren, also dem praktischen Teil der Ausbildung des Lehrpersonals, wenn es um die Ausarbeitung von Unterricht geht, die Referendare dieser Legitimation ihrer Unterrichtsentwürfe in der Tragweite dessen, was Wissenschaft diskutiert hat, nachkommen.

Mit Blick auf die in der Verfassung genannten Ziele, welche das Bildungssystem zu erreichen und sicherzustellen hat, wollen wir nun unser Fundamentum ergänzen. Die Summe und der Sinn dieser Ziele heißt Bildungsauftrag. Konkret listet die Landesverfassung des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen die folgenden Ziele in Artikel 7 auf:

Ehrfurcht vor Gott, Achtung vor der Würde des Menschen und Bereitschaft zum sozialen Handeln zu wecken, ist vornehmstes Ziel der Erziehung.

Die Jugend soll erzogen werden im Geiste der Menschlichkeit, der Demokratie und der Freiheit, zur Duldsamkeit und zur Achtung vor der Überzeugung des anderen, zur Verantwortung für Tiere und die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen, in Liebe zu Volk und Heimat, zur Völkergemeinschaft und Friedensgesinnung.

Man kann über einzelne Punkte der textlichen Fassung streiten, sollte aber bedenken, dass dieser Text aus der Gründerzeit der Bundesrepublik Deutschland stammt. Was jedoch nicht hintergehbar ist, ist der dahinterliegende Sinn des Bildungsauftrages von Schulen. Dazu ist auszuführen, dass es in der Schule nicht darum geht, Mathematik, Deutsch, Englisch usw. als Fach an sich zu erlernen. Das ist nicht der Sinn der Verfassung und des Bildungsauftrages. Die Fächer bilden lediglich ein (historisch gewachsenes) Medium, in dem die aufgeführten Ziele sich realisieren müssen. Sollte diese Fächerstruktur sich als untauglich erweisen die Verfassungsziele zu erreichen, wäre sie zu überdenken.

Nun zeigt die empirische Forschung, dass sich in der Schule ein gewisser Positivismus breitgemacht hat. Deshalb geben wir Ihnen einen Text zum Nachdenken mit auf den Weg. Goethe schreibt dazu einen ganz knappen Satz:

Der Deutsche soll alle Sprachen lernen, damit ihm zu Hause kein Fremder unbequem, er aber in der Fremde überall zu Hause ist.

In dieser Auffassung geht es also nicht darum, einfach die Fremdsprache zu erlernen, der Text unterlegt nämlich, dass die Sinnhaftigkeit der Fremdsprache darin besteht – und jetzt beziehen wir und auf den Verfassungstext- die „Liebe zur Völkergemeinschaft zu realisieren“, die „Liebe zur Friedensgesinnung“ zu praktizieren und die „Achtung vor der Überzeugung des Anderen“ zur Tat werden zu lassen. Das Zitat unterlegt deshalb deutlich die bildungstheoretische Funktion der Sprache. Nur – das muss eben auch organisiert werden. Der Positivismus richtet es nicht.

Keine Frage, die Welt befindet sich im Umbruch. Führt die damit verknüpfte Reproduktion nun lediglich auf eine neue Stufe, die aber strukturell alles beim Alten belässt oder ergeben sich ernsthaft zu nennende Erweiterungen der Demokratie? Welche Rolle nehmen Schulen in diesem Prozess ein? Bewirkt die geforderte Digitalisierung mehr als nur ein paar Blech- oder Plastikkisten mehr im Schul- und Lehrerzimmer? Welche neuen Strukturen lassen sich in den allgemein- und berufsbildenden Schulen als einer spezifischen Verteilungs- und Zuteilungsstruktur denken und was hieße da Schulentwicklung? Kann sie der von der Verfassung geforderten Erziehung zur Mündigkeit genügen?

Was in diesen Zusammenhängen gedanklich zu berücksichtigen ist, damit beschäftigt sich die nächste Einheit über erziehungswissenschaftliche Denkfiguren, nämlich die gesellschaftlichen Konstitutionslogiken.

Abschließend können wir sagen, dass sich unser  Erkenntnisinteresse einer Position verdankt, die Wissenschaft in politischer Verantwortung betreibt. Das ist im Übrigen keine Begrifflichkeit, die von uns stammt. Es ist eine Auffassung, die Jürgen Habermas stets für sich in Anspruch genommen hat. Habermas gilt als renommierter Wissenschaftler, der der oben erwähnten Kritischen Theorie (Frankfurter Schule) zuzurechnen ist. In dieser Wissenschaftstradition sind wir selbst verankert.

Soviel zu unserem Fundamentum als Anregung und zum Nachdenken.

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