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Erziehungswissenschaft vernetzt


Lehrbuch: Übersicht


Mismatches

Ein Phänomen der Risikogesellschaft: Mismatches am Arbeitsmarkt

Zum (ökonomischen) Begriff „Mismatch“

Gemeinhin bezeichnet man die Abweichung von einem perfekten „Match“ als „Mismatch“. Um das Ausmaß an Mismatch operationalisierbar zu machen, sei es ratsam, von einem hypothetischen „optimalen“ Match als Benchmark auszugehen (vgl. Entorf 2000, 10). Bezogen auf den Arbeitsmarkt, das heißt konkret auf den Ausgleich von Qualifikationsangebot (Arbeitssuchenden) einerseits und Qualifikationsnachfrage (offenen Stellen) andererseits, kann „Optimalität“ zum einen die Match-Qualität der im Matching-Prozess abgeschlossenen Arbeitsverhältnisse betreffen. Hier steht die quantitative und qualitative Frage im Vordergrund, ob die Profile der Arbeitsplatzanforderungen von den Arbeitsplatzbewerbern vollständig ausgefüllt werden. Solche perfekten Matches seien die Grundlage dauerhafter Beschäftigungsverhältnisse. Eventuelle spätere Trennungen vom Arbeitsplatz erfolgten dann im Prinzip nur rezessionsbedingt; wenn man vom Problem obsolet werdender Arbeitsplätze einmal absieht (qualitätsorientiertes Match).

„Optimalität“ kann aber auch unter einer rein mengenorientierten Zielfunktion definiert werden, also unter der Perspektive, möglichst schnell viele neue Arbeitsplätze entstehen zu lassen. Damit ist das konventionelle Idealbild flexibler Arbeitsmärkte ohne Mismatch in den Blick genommen, in dem lediglich Formen friktioneller Arbeitslosigkeit auftreten. In diesem Sinne seien etwa die populären Mismatch-Indikatoren à la Jackman und Roper (1986) oder Jackman, Layard und Savouri (1991) konstruiert, nämlich als kurzfristige Maximierung der Anzahl der Neueinstellungen bei
gegebener Anzahl von Arbeitslosen und offener Stellen (mengenorientiertes Match).

Als Idealfall bezeichnet man eine Situation, wenn beide Optimalitätskriterien gleichzeitig erfüllt sind. Dann wäre die Anzahl der Neueinstellungen H maximal, während gleichzeitig die Anzahl der Trennungen S aufgrund perfekter Matches minimal ist. Als Differenz ergibt sich das maximal mögliche Beschäftigungswachstum (Hmax – Smin). Mismatch ergibt sich dann als Abweichung des Optimal-Zustands vom Ist-Zustand:

(1) Mismatch = (Hmax – Smin) – (Hist – Sist).

Die Mismatch-Problematik reduziere sich in dieser ersten Definition auf die Abhängigkeit von zwei Wahrscheinlichkeiten: erstens als Arbeitsloser einen Arbeitsplatz zu finden und zweitens als Erwerbstätiger seinen Arbeitsplatz zu verlieren. Mismatch sei insofern eine Funktion der Findungsrate f und der Separationsrate s:

(2) Mismatch = g (Findungsrate, Separationsrate).

In der zweiten Definition bedeuten hohe Findungsraten und geringe Separationsraten ein geringes Ausmaß an Mismatch. Hier ergebe sich eine unmittelbare Affinität zum Konzept der „natürlichen“ Arbeitslosigkeit im Sinne von Mankiw (1998), bei der gleichfalls die Höhe an Mismatch durch die Findungsrate und durch die Separationsrate determiniert werde (vgl. Entorf
2000, 10 f.).

Mismatches am Arbeitsmarkt – Regionalkarten 2021

Versorgungsprobleme
Besetzungsprobleme
Passungsprobleme

Zu den Mismatches

Um die gesellschaftliche Relevanz spezifischer Bedingungskonstellation deutlich zu machen, sei hier exemplarisch auf die vielfältigen unter dem Terminus Passungsproblematik diskutierten gesellschaftlichen Problemlagen und Gefährdungsbereiche verwiesen, die sich unter Rückgriff auf ein anthropologisches Arbeitsverständnis (mindestens) am Verhältnis des Bildungssystems zu folgenden drei gesellschaftlichen Teilbereichen festmachen lassen:

  1. Bildungssystem – Beschäftigungssystem:
    Diesbezüglich bezieht sich das Passungsproblem auf Mismatches hinsichtlich einer qualitativen Entsprechung zwischen Bildungs- und Beschäftigungssystem. Es wird in der Berufsbildungswissenschaft auch unter dem Begriff der Realitätsnähe oder des „empirischen Gehaltes von Curricula“ erörtert (vgl. z. B. BRUCHHÄUSER 2005). Das Problem ist so alt wie die Berufsbildungswissenschaft selbst. Warf doch schon Anna SIEMSEN (1926) dem als Vater der Berufsschule geltenden KERSCHENSTEINER vor, feste Schneidungen (z. B. in Form von Berufen) seien als Leitidee von Ausbildung im Industriezeitalter obsolet geworden. Reflexionen über „Umbildungen“ im Berufsleben und in der Berufsausbildung beschäftigen die Berufsbildungswissenschaft, aber auch die Bildungspolitik zunehmend seit Anfang der 1960er Jahre (vgl. u.a. MERTENS 1970, HUISINGA 1990). An den Debatten über Schlüsselqualifikationen und an den Thematiken der Handlungs- und Lernfeldorientierung lässt sich das Problem der Entsprechung von Ausbildung und Qualifikationsbedarf besonders gut nachvollziehen. HUISINGA/ LISOP nennen das Problem der Entsprechung bzw. das Abstimmungsproblem (vgl. KLOSE 1987) „Passung“ (vgl. HUISINGA/ LISOP 1999, 25). An der Schnittstelle zwischen Bildungs- und Beschäftigungssystem stellt sich das Passungsproblem als eines des problemlosen Übergangs („zweite Schwelle“). Es betrifft nicht die Auswahl und Bestimmung von Wissens- und Könnenskatalogen bezüglich der Ausführung konkreter Tätigkeiten, sondern in zunehmendem Maße die Justierung der eher generellen (extrafunktionalen) und der eher speziellen Qualifikationen. Anders formuliert geht es darum, welches Wissen und Können, welche habituellen Dispositionen, welche Rollen- und Wertemuster über die zu erlernenden Arbeitstechniken hinaus von Belang sind. Unter Rückgriff auf die subjektbezogene Theorie der Berufe von BECK, BRATER, DAHEIM (vgl. dies. 1980) und Leitbilder kaufmännischer Ausbildung hat die Berufsbildungswissenschaft das Verhältnis von generellen und speziellen Qualifikationen zwar schon vor Jahrzehnten aufgegriffen; sie hat jedoch kaum Instrumente oder Standards für eine entsprechende Qualifikations- und Curriculumforschung entwickelt. Auch haben die korporative Struktur des Berufsbildungssystems und seine Basierung durch das Berufsbildungsgesetz der Lösung des Passungsproblems mit dem Procedere der Erstellung von Ausbildungsordnungsmitteln eine spezifische Hürde entgegengestellt. Sie müssen zahlreiche Abstimmungsebenen durchlaufen, was den Prozess einerseits in ein time-lag und was andererseits inhaltliche Verflachungen mit sich bringt. Beobachten lassen sich diese Mismatches und time-lags u. a. am Fachkräftemangel bei gleichzeitig hoher Arbeitslosenquote, hohen Ausbildungs- und Studienabbrecherquoten und auch an der Verbreitung von Burnout-Syndromen.
  2. Bildungssystem – öffentliche Arbeit:
    Die Bearbeitung dieser Passungsproblematik, die sich u. a. an den Phänomenen festmachen lassen, die gemeinhin als Politikverdrossenheit, nachlassende Wahlbereitschaft, Nachfolgeproblematik bei Ehrenämtern oder auch als ein eher diffuses „Sich-nicht-verantwortlich-fühlen“ gelabelt werden, gehört bisher eher nicht zum klassischen Forschungsfeld der Berufsbildungswissenschaft (vgl. u.a. DEUTSCHE FORSCHUNGSGEMEINSCHAFT 1990), obwohl die (im Prinzip unhintergehbare) Dreieinheit von Sach-, Selbst- und Sozialkompetenz, mit entsprechend entwickelter Urteils-, Handlungs- und Kommunikationsfähigkeit durchaus zu den disziplinären Grundeinsichten bzw. zu ihrem Wissensbestand gehören. Diesbezüglich ist das Selbstverständnis der Berufsbildungswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler daraufhin zu hinterfragen, ob nicht die traditionellen Partialsichten bereits bei der Ursachen- und Bedingungs(er)forschung nur einen Teil des komplexen Gefüges offenlegen können und damit auch der Blick auf angemessene Strategien für den Umgang mit Gefährdungen und Risiken verstellt bleibt.
  3. Bildungssystem – private Reproduktionsarbeit:
    In diesem gesellschaftlichen Schnittstellenbereich sind es die Fragen des „Umgangs mit sich selbst und anderen“ und das zugrunde liegende Selbstverständnis der Akteure, die in den Fokus wissenschaftlicher Aufmerksamkeit geraten, wenn es um Problemlagen geht, die sich u. a. im Konstrukt „Gesundheit“ verdichten. Diesbezüglich sind es nämlich nicht nur die empirisch nachweisbaren steigenden somatischen und psychosomatischen Pathologien – wie sie medizinisch diagnostiziert und vom Bundesamt für Statistik generiert werden (vgl. DESTATIS) -, sondern auch die persönlichen und gesellschaftlichen Beziehungsstrukturen und ihre Qualitäten, die es in den Blick zu nehmen gilt. Die eher diffuse Phänomenallage macht auf offensichtlich weit verbreitete (und zunächst bzw. z.T. milieuunabhängige) Problemlagen aufmerksam: Sie betreffen Beziehungs- und Erziehungsfragen, Ernährungs- und Bewegungsdefizite, Verwahrlosung, Vernachlässigung, das Straßenkinderphänomen, Aggression und Autoaggression – um nur einige der jüngst häufiger in der Öffentlichkeit diskutierten Gefährdungsbereiche zu nennen – aber z. B. auch eine Sterblichkeitsrate der 0-1jährigen die den hochelaborierten medizinischen Sachstand in der BRD inklusive zugehöriger Infrastruktur geradezu konterkariert. Diesbezüglich stehen ebenfalls systematische Bedingungs- und Ursachenanalyse aus, die notwendige Sichten korrelieren und auf Neuschneidungen der Expertise/ des Expertenwissens angewiesen sind.

Die gesellschaftliche Bearbeitung dieser komplexen, interdependenten Problemlagen scheint zwar einerseits dringend erforderlich, entzieht sich andererseits aber eindimensional-fachlichen Zugriffen und partieller „Erziehungs-“ bzw. „Entwicklungs“bemühungen in den jeweiligen Reproduktionskontexten (wie sie beispielsweise immer wieder im Hinblick auf „soziales Lernen“ versucht werden). Vielmehr ist – den (erziehungs)wissenschaftlichen Diskurs betreffend – ein neues Denken aller drei Komplexe in ihrer wechselseitig abhängigen Gesamtheit erforderlich; womit dann allerdings auch gesellschaftlich zu lösende Aufgaben intendiert sind, die den öffentlichen Bildungsauftrag anspruchsvoll neu konnotieren und den Modernitätsrückstand des Bildungssystems in seiner aktuellen Ausprägung, mitsamt seiner Bildungsinstitutionen, Bildungsgänge und Curricula offensichtlich werden lassen.

Es ist die spezifische Kombination aus Leistungslücken, Modernitätsrückständen, abnehmender Finanzierbarkeit und Dysfunktionalitäten, die das Feld bereitet für eine neue Steuerungslogik im Bereich öffentlicher Aufgaben, die es im Folgenden zu konkretisieren gilt.

Wir empfehlen...

Buchmann, U. (2007): Subjektbildung und Qualifikation. Ein Beitrag zur Entwicklung berufsbildungswissenschaftlicher Qualifikationsforschung. 2. durchgesehene Auflage. Frankfurt am Main: GAFB-Verlag.
URL: http://gafb-verlag.de/Katalog/Freie-E-Books/Q&C_04.pdf

Buchmann, U. (2009): Neue Steuerungslogik im Bildungssystem: New Public Management und die Konsequenzen für das disziplinäre Selbstverständnis der Berufs- und Wirtschaftspädagogik. In: Büchter, K. / Klusmeyer, J. / Kipp, M. (Hrsg.)(2009): Selbstverständnis der Disziplin Berufs- und Wirtschaftspädagogik. bwp@ Ausgabe Nr. 16; Juni 2009.
URL: https://www.bwpat.de/content/ausgabe/16/buchmann/index.html

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Über diesen Beitrag

Dieser Beitrag wurde verfasst von Prof.’in Dr. Ulrike Buchmann.

 

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